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Diskurs

In den letzten Jahrzehnten entwickelte sich ein eklatantes Missbrauchsproblem innerhalb der westlichen tibetisch-buddhistischen Gemeinschaften. Immer wieder kommen neue Skandale ans Licht. Was muss geschehen, um dieses Problem nachhaltig zu lösen?

Für kurze Zeit wirkte es fast so, als ob durch das Ableben von tibetisch-buddhistischen Lehrern wie Chögyam Trungpa (1939–1987) oder Sogyal Rinpoche (1947–2019) und den Rücktritt von Sakyong Mipham – allesamt Missbrauchstäter – die Missbrauchsproblematik in tibetisch-buddhistischen Gruppen gelöst werden könnte. In der Tat wurden in den großen Gemeinschaften Shambhala und Rigpa nach Aufarbeitung der Missbrauchsskandale richtige Schritte für die Zukunft gesetzt.

Jedoch geben die jüngst bekannt gewordenen Informationen zu möglichem sexuellen Fehlverhalten des 17. Karmapa Ogyen Trinley Dorje, einem der bekanntesten Repräsentanten des tibetischen Buddhismus, Anlass zur Sorge. Es sind hier nämlich wieder die gleichen Muster zu vermuten, die bereits in der Vergangenheit zu großem Leid zahlreicher Menschen führten: geheim gehaltene sexuelle Beziehungen tibetisch-buddhistischer Lehrer zu ihren Schülerinnen oder Schülern, Ausnutzen eines Autoritätsverhältnisses, Machtmissbrauch, Manipulation, Versuche der Vertuschung und Schweigen der verantwortlichen religiösen Autoritäten.

Viele Praktizierende, Anhänger und Sympathisanten des tibetischen Buddhismus stehen vor der Frage, wie sie mit diesen verstörenden Informationen umgehen sollen. Verdrängen oder Ignorieren der Problematik darf nicht die Lösung sein. Manche wenden sich vom tibetischen Buddhismus ab. Auf der anderen Seite hat die nun schon lange andauernde Missbrauchskultur in der tibetischen Tradition dazu beigetragen, das Problem zu verstehen und Lösungen zu erarbeiten. Manchmal sind es gerade die Opfer von Missbrauch wie Lama Willa Miller, die Wege aus dieser für den tibetischen Buddhismus existenziellen Krise aufzeigen und Praktizierenden Hoffnung geben können.

Die Problematik des sexuellen Missbrauchs lässt sich in so gut wie allen religiösen Traditionen feststellen. So sind neben christlichen Gemeinschaften auch der Zen- und Theravada-Buddhismus sowie Yoga-Gruppen betroffen. Die überwiegende Mehrzahl der Opfer sind Frauen. Die tibetisch-buddhistische Kultur begründet seit über tausend Jahren ein Geschlechterverständnis, das stark patriarchal geprägt ist.

Sexueller Missbrauch im tibetischen Buddhismus: Wege aus der Krise

Schon der tibetische Begriff für „Frau“ ist „skye dman“ und bedeutet „niedere Geburt“. In der Geschichte Tibets bewerteten männliche religiöse Autoritäten Bedürfnisse von Frauen in der Regel als zweitrangig und übten über sie Kontrolle aus. Die hohe Reputation männlicher Lamas und deren Bedürfnisse hatten hingegen Priorität. Zu diesen zählt es, mit Frauen, geleitet von unterschiedlichen Motiven, sexuelle Partnerschaften einzugehen.

Im Falle nichtzölibatär lebender Lamas werden die Beziehungen zumeist offen, im Falle eines abgelegten Zölibats jedoch im Geheimen geführt. Geheim gehaltene „tantrische Partnerschaften“ werden durch spezielle tantrische Gelübde, sogenannte samaya, legitimiert.

tibetischen Buddhismus

Aus tantrischer Sicht stellen sexuelle Praktiken wie „yab-yum“ auch für Mönche keine religiösen Verfehlungen dar. Die „wiedergeborenen Meister“, auf Tibetisch „Tulkus“, werden im tibetischen Kulturraum oft so erzogen, dass ihnen während ihrer religiösen Ausbildung bereits in jungen Jahren „heimliche (tantrische) Gefährtinnen“ für die religiöse Praxis zugeführt werden.

Gleichzeitig wird ihnen aber auch vermittelt, dass Frauen aufgrund ihrer sexuellen Reize eine Gefahr für ihre spirituelle Entwicklung darstellen. Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der möglichen Erleuchtung mithilfe tantrisch-sexueller Methoden und dem Ideal des allen weltlichen Freuden entsagenden, sexuell enthaltsamen Mönchs. Dieses Dilemma kann nun in der Praxis dazu führen, dass eine Frau, nachdem sie in eine geheime tantrische Partnerschaft eingewilligt hat, von ihrer Umgebung isoliert wird, allen Anweisungen des Partners zu entsprechen hat und dazu gezwungen wird, über alles, was geschieht, Stillschweigen zu wahren.

Der Lama allein kontrolliert die Dauer der Beziehung und die Umstände, unter denen sie stattfindet. Durch die Geheimhaltung bewahrt er nach außen hin die Reputation des allen Leidenschaften entsagenden, zölibatären Mönchs. Die Untersuchungen vieler Missbrauchsfälle haben gezeigt, dass derartige Beziehungen zu schweren Traumatisierungen der betroffenen Frauen führen konnten. Untersucht wurden in diesem Zusammenhang auch die Umstände, die zu solchen Beziehungsstrukturen zwischen Tätern und Opfern führen. Der Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses innerhalb einer Lehrer-Schüler-Beziehung erwies sich dabei als eine der grundlegenden Ursachen.

Die Lehrer-Schüler-Beziehung im tibetischen Buddhismus birgt die starke Gefahr, toxisch zu werden.


Was kann man tun? Zuerst gilt es, traditionsbedingt eingeforderte, hingebungsvoll-devote Einstellungen zum charismatischen Guru zu reflektieren und zu unterlassen, und zwar auch dann, wenn der Guru oder seine Biografie als „heilig“ erscheinen. Denn die Geschichte hat gezeigt, dass Ethik und Moral auch bei ganz großen Meistern, wie etwa Kalu Rinpoche (1905–1989), versagen können.

June Campbell, prominentes Missbrauchsopfer, ging 1996 mit schweren Anschuldigungen gegen ihn an die Öffentlichkeit. Einen Tulku per se als einen großen Bodhisattva zu begreifen, dem es einzig daran liege, andere zur spirituellen Befreiung zu führen, ist falsch. Im traditionellen Tibet wurden viele Tulkus von der dortigen Bevölkerung und vom Klerus nachweislich sehr kritisch gesehen. Im Westen hingegen werden Lamas, die von sich behaupten, Tulkus zu sein, immer als besonders heilig begriffen.

Eigenwillige pädagogisch-didaktische Stilmittel mancher Meister sind abzulehnen. Dies betrifft beispielsweise die Anwendung „geschickter Mittel“, „zornvollen Mitgefühls“ oder „verrückter Weisheit“. Die „verrückte Weisheit“, die sich an überlieferte, unorthodoxe Erziehungsmethoden des Buddhas anlehnt, ist in Wahrheit eine Erfindung von Chögyam Trungpa.

Ganz im Gegensatz zu dem, was Trungpa oder Sogyal Rinpoche lehrten, existierte in Tibet keine bedeutende Traditionslinie „heiliger verrückter Yogis“, die sich bis Padmasambhava (ca. 8.–9. Jahrhundert n. u. Z.), dem legendären Begründer des Buddhismus in Tibet, zurückverfolgen ließe und die als spirituell verwirklicht angesehen worden wäre. Trotzdem halten tibetische Lehrer an solchen Methoden fest.

Lehrer, die man in geistlichen Höhen vermutet, die vorgeben, die eigentliche Wahrheit zu kennen und sakrale Erlöser zu sein, stehen in unendlich weiter moralischer Distanz zum noch nicht erleuchteten, von Samsara verblendeten Schüler. Dieser vermag es aufgrund seiner „Unwissenheit“ nicht, grenzüberschreitende Handlungsweisen des Lehrers zu hinterfragen.

Erschwerend wirkt hier noch, dass Schüler in der tantrischen Praxis bestimmte Gelübde, „samayas“, ablegen müssen. Eine dieser Regeln besagt, dass man den Lehrer nicht kritisieren dürfe. Schüler können dadurch zu Apologeten, zu Verteidigern etwaigen Fehlverhaltens ihres Lamas werden. Eine Solidarisierung der Schüler wird erschwert. „Wenn sich ein Lama eigennützig Vorteile aufgrund seiner Position und/oder der Naivität seiner Schüler verschafft, dann ist das Missbrauch.“

Dass es so mit dem tibetischen Buddhismus im Westen nicht weitergehen kann, versteht eine neue Generation tibetisch-buddhistischer Lehrerinnen und Lehrer. Jetsün Khandro Rinpoche, eine anerkannte tibetische Meisterin, rät zum Beispiel: „Wenn etwas in euren Augen keinen Sinn macht, hinterfragt es! Wenn sich ein Lama eigennützig Vorteile aufgrund seiner Position und/oder der Naivität seiner Schüler verschafft, dann ist das Missbrauch, was wir hier schmerzlich sehen. Es gibt auch keine schnelle Erleuchtung. Und jedem, der eine solche in Aussicht stellt, ist mit Misstrauen zu begegnen!“


Dieser Artikel erschien in der Ursache\Wirkung № 124: „Frei Sein!"

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Sie lehnt eine „charismatische Herrschaft“ der großen Gurus, die eine rasche Erleuchtung noch zu Lebzeiten des Schülers durch Anwendung eigenwilliger, nicht verständlicher Methoden versprechen, ab.

Für den Westen wurde eine Autoritätsstruktur für Lehrer-Schüler-Beziehungen geschaffen, die es in Tibet so nicht gab. Die Samaya-Gelübde, auch als Teil einer „buddhistischen Ethik“ verstanden, wurden von den Tibetern dekontextualisiert in den Westen übertragen. Es war der erste Kalu Rinpoche, der speziellfür den Westen eine Autoritätsstruktur in Lehrer-Schüler-Beziehungen schaffen wollte, die es in Tibet aber so nicht gab.

Seit den Erklärungen des Dalai Lama aus dem Jahr 1993 hat sich aber herumgesprochen, dass man nicht in einer Hölle landet, wenn man berechtigterweise Lehrer verlässt, sie kritisiert oder ihr Fehlverhalten aufzeigt. Die amerikanische Lama Willa Miller spricht von einem „Samaya-Mythos“, wenn die heiligen Regeln bloß als einseitiger Treueschwur seitens der Schüler zu verstehen wären. Lehrer seien auch verpflichtet, sich an ihren Bodhisattva- und Pratimoksa-Gelübden zu orientieren.

Diese verlangen, dass Lehrer ihren Schülern in jeder Hinsicht verantwortungsbewusst begegnen. Miller: „Die Essenz der Samayas ist nicht blindes Vertrauen, sondern vielmehr, uns in gegenseitiger Herzensgüte zu tragen, während wir gleichzeitig unsere menschliche Möglichkeit des Scheiterns begreifen.“

Der große Gelehrte Sakya Pandita (1182–1251) lehrte im 13. Jahrhundert: „Verantwortungslose Lamas, die nach Sinnesfreuden streben und verletzend sind, sollten von intelligenten Schülern genauso zurückgewiesen werden, als lehnte man die Hölle als Mittel zur vollkommenen Erleuchtung ab.“

Lama Miller legt in ihrem Dharma-Unterricht Wert auf Respekt vor Diversität und spricht von einer „Sicherheitszone“ für jeden Schüler, die es zu beachten gilt. Dem Kagyü-Lama Rod Owens, der sich als „Black Queer Tantric Teacher“ bezeichnet, geht es um eine Dekonstruktion patriarchaler Männerbilder und eine neu zu erarbeitende „heilige Maskulinität“. Diese sieht er mit Femininität verbunden.

Solche und ähnliche Impulse wird auch der Mainstream des tibetischen Buddhismus im Westen aufnehmen müssen, um gesellschaftspolitischen Forderungen zu entsprechen. Nur dann können toxische Strukturen, die Missbrauch hervorbringen, überwunden werden. Und nur dann kann der tibetische Buddhismus im Westen erfolgreich weiterbestehen.

 

Georg Wenisch studierte Sprachen und Kulturen Südasiens und Tibets sowie Religionswissenschaft an der Universität Wien. Er forschte zum Phänomen des sexuellen Missbrauchs im tibetischen Buddhismus.


Hintergrund

Lama Willa Miller
ist Lehrerin in der tibetisch-buddhistischen Tradition. Sie berichtete unter anderem in der Sommerausgabe 2018 des englischsprachigen Magazins „Buddhadharma: The Practitioner‘s Quarterly“, wie sie als 22-Jährige von ihrem Dharma-Lehrer missbraucht wurde: „Wir waren allein in einem Hotelzimmer in Delhi zu einem ‚Dharma-Check-in‘, den er arrangiert hatte. Dieser dauerte jedoch nur wenige Minuten, bevor er meinen Körper packte und sein Gesicht an meines presste. […] Nur sechzehn Tage zuvor hatte ich auf Drängen desselben Lehrers das Zölibats-Gelübde auf Lebenszeit abgelegt.“

Drei Gelübde
Im tibetischen Buddhismus werden die folgenden Regeln der drei Gruppen Mönche und Nonnen, Laien sowie Asketen in den „Drei Gelübden“, „sdom gsum“ dargestellt, unterschiedlich hierarchisiert und in einem Gesamtbezug bewertet.

Pratimoksa-Gelübde:
Die für Mönche und Nonnen verbindlichen Regeln, wie das Zölibat.

Bodhisattva-Gelübde:
Versprechen, allen leidenden Wesen altruistisch von Nutzen zu sein, sie zur Erleuchtung zu führen.

Samaya-Gelübde:
Spezielle Verpflichtungen für tantrisch Praktizierende. Sie beschreiben auch den Lebenswandel, der vom Tantriker erwartet wird.


 Bilder © GettyImage

Georg Wenisch

Georg Wenisch

Georg Wenisch studierte Sprachen und Kulturen Südasiens und Tibets sowie Religionswissenschaft an der Universität Wien. Er forschte zum Phänomen des sexuellen Missbrauchs im tibetischen Buddhismus.
Kommentare  
# Uwe Meisenbacher 2023-06-05 18:32
Hallo liebe Dharma praktizierende,

befreit Euch ( wenn Ihr noch nicht befreit seid ) von den unheilsamen Ausnutzen eines Autoritätsverhältnisses, Machtmissbrauch, Manipulation, Versuche der Vertuschung und Schweigen der verantwortlichen religiösen Autoritäten; unheilsamen Dogmen und Aber-
glauben, wie, Wiedergeburten, Göttern , Dämonen , Höllenhunden, Gespenstern , Orakeln, Lamas, „wiedergeborenen Meister“, auf Tibetisch „Tulkus“, Jenseitswelten , Esoterik, Mystik, unsinnigen Ritualen , leeren Zeremonien , übernatürlichen Kräften , Frauenunterdrückungen, sexueller Missbrauch, usw.

Es ist nicht unbuddhistisch, unheilsame, Missstände, Dogmen und Aberglaubensüber-
lieferungen im Buddhismus zu kritisieren und in Frage zustellen.

Mit freundlichen, aberglaubensfreien, säkularen, heilsamen, buddhistischen Grüßen.

Uwe Meisenbacher
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